Hippothesen, Teil 1: 
Ist das Laufen auf engen Kreislinien schädlich?

Zurzeit kursieren Beiträge zu einer Studie von Logan et al. 2021 in den sozialen Medien, die das ergeben haben soll. Tatsächlich hat die im Fachjournal „animals“ veröffentlichte Studie untersucht, welchen Einfluss Gangart und Kreisdurchmesser u.a. auf die vertikale Kraft haben, die auf die Vorderhufe wirkt. 

Behauptet man auf Grundlage der Studie nun, es sei erwiesen, dass das Longieren auf engen Zirkeln gesundheitsschädlich ist, lässt sich das nur als komplette Fehlinterpretation einordnen. 

Warum, möchte ich Dir im Format meiner „Hippothese“ genauer erklären. Was ist eine „Hippothese“? Den Titel „Hippothese“ habe ich ganz flach aus den altgriechischen Worten „Hippo“ für Pferd und „Hypothese“ für Unterstellung zusammengebastelt. In diesem Format beleuchten wir zusammen im Netz kursierende Behauptungen, die sich angeblich auf wissenschaftliche Ergebnisse stützen. Klingt nach einem Riesenspaß, finde ich*

*als Nerd 

Jetzt aber los: 

Um zu verstehen, was genau eine Studie genau untersucht hat, muss man sie erst einmal natürlich gelesen haben. Damit Du einen groben Überblick hast, fasse ich den Inhalt der Studie hier kurz zusammen – wenn Du es ganz genau wissen willst, ist es natürlich am besten, Du liest die Studie selbst. Einen Link findest Du unten in der Quellenangabe. Als ich zuerst nur den Abstract der Studie gelesen habe, habe ich sie übrigens selbst nicht ganz richtig verstanden. Um über eine Studie reden zu können, ist das Lesen der Zusammenfassung eben nie ausreichend, man muss sie schon von Anfang bis Ende durcharbeiten.

Was wurde gemacht?

Logan et al. 2021 haben mithilfe von an den Vorderhufen angebrachten Sensoren an neun ausgewachsenen, lahmfreien Pferden gemessen, wie hoch die vertikale Kraft in verschiedenen Belastungssituationen ist, die auf die Hufe wirkt. Außerdem haben sie noch gemessen, welche Flächenanteile des Hufs belastet wurden und welcher durchschnittliche Druck am Huf auftrat (dieser muss nicht der vertikalen Kraft entsprechen, je nachdem wie groß die Huffläche ist, auf die sich der Druck verteilt). Da es sonst noch komplizierter wird, schauen wir uns im Folgenden nur die vertikale Kraft und den durchschnittlichen Druck genauer an.

Zuerst wurden die Parameter auf einer 25 Meter langen, geraden Linie einmal im Schritt und einmal im Trab gemessen. Dann wurde noch auf einem Zirkel mit 10 Metern Durchmesser und auf einem Zirkel mit 15 Metern Durchmesser im Schritt, Trab und Galopp gemessen, jeweils auf der linken Hand. 

Was kam raus?

Die Daten wurden im Nachhinein statistisch ausgewertet. Da auf gerader Linie keine Galoppwerte gemessen wurden, verglichen die Autoren zunächst die Daten nur von Schritt und Trab auf der Geraden und den Kreislinien und danach noch die Daten aller Gangarten nur auf den Kreislinien. 

Klammerten die Autoren den Galopp aus, war die Auswertung der Daten in meinen Augen bereits überraschend: 

  • Im Schritt wirkten auf der Geraden und dem kleinen Zirkel höhere Kräfte als im Trab. Das gleiche ergab sich für den Druck auf die Hufe. 
  • Auf dem großen Zirkel waren die wirkenden Kräfte in Schritt und Trab statistisch nicht signifikant unterschiedlich. Der Druck hingegen war im Schritt auf dem großen Zirkel höher als im Trab. 
  • Die Kräfte im Schritt waren auf dem kleinen und größeren Zirkel geringer als auf der Geraden. Für den Druck hatten die drei verschiedenen Linien hingegen keinen Effekt. 
  • Im Trab war die vertikale Kraft auf dem großen Zirkel kleiner als auf dem kleinen Zirkel und der Geraden. Auf den Druck hatten die drei verschiedenen Linien aber wiederum keinen Einfluss.

Zusammengefasst hatte die Gangart einen deutlicheren Effekt auf die gemessenen Parameter als die verschiedenen Linien. Im Schritt wirkten größere Kräfte und mehr Druck als im Trab. 

Die alle Gangarten vergleichenden Daten auf kleiner und großer Kreislinie ergab dann ein komplizierteres, aber ähnliches Bild. Denn hier traten Interaktionen zwischen Gangart, Linientyp und Beinseite auf. Das bedeutet in diesem Fall, wenn die Autoren nur eine Variable (z.B. Linie) mit der Kraft verglichen, traten keine signifikanten Unterschiede auf. Verrechneten sie aber z.B. drei Variablen (Gangart, Linie und Bein) miteinander, beeinflussten sie sich statistisch gesehen. Beim Druck traten sowohl signifikante Unterschiede bei nur einer Variablen als auch Interaktionen zwischen den drei Variablen auf. 

  • Betrachtete man Schritt, Trab und Galopp zusammen, trat kein statistisch signifikanter Unterschied auf. Klammerte man den Schritt aus, wirkten im Galopp auf dem äußeren Vorderbein höhere Kräfte als im Trab, nicht jedoch auf dem inneren. Betrachtete man den gemessenen Druck, war dieser im Schritt wieder höher als im Trab und Galopp (beide Vorderbeine, beide Linien). 
  • Die Linie hatte keinen Einfluss auf die Kräfte. Ebenfalls auf den Druck hatte die Linie keinen Effekt. 

Zusammengefasst zeigte sich den Autoren auch in diesem Datenset, dass die Gangart einen höheren Effekt auf Kraft und Druck hatte als die Linie. 

Wenn Dir jetzt der Kopf raucht, sei beruhigt: Ich musste mir die Tabellen und den Text zu den Ergebnissen wieder und wieder durchlesen, um einen Überblick zu bekommen und es grob zusammenfassen zu können. 

Was sagt uns das?

Ehrlich gesagt gar nicht so viel. Das sehen in der Diskussion der Arbeit auch die Autoren so. Zum einen sind Systeme, mit denen man solche Belastungen messen kann, noch recht jung. In dieser Studie ist es z.B. so, dass das verwendete System zuvor Großteils nur im Schritt und Trab erprobt wurde – möglicherweise sind die Messungen nicht mehr so akkurat, wenn’s schneller wird. Das wissen wir bisher aber nicht. Da bräuchte es vergleichbare Untersuchungen mit anderen Systemen. 

Auch wissen wir nicht, ob sich das gleiche Bild an der Longe oder unter dem Sattel zeigen würde (in dieser Studie liefen die Pferde auf der Geraden an der Hand und auf der Kreislinie frei im RoundPen). Zudem sagen Kraft und Druck, die am Huf wirken, nichts darüber aus, wie sich diese dann fortlaufend auf höhere Strukturen wie Knorpel, Knochen, Sehnen und Bänder verteilen. 

Arbeiten wie die von Logan et al. 2021 sind super wichtig, um die Belastung des Pferdekörpers im Training immer besser zu verstehen – aber jede einzelne Arbeit ist nur ein winziges Steinchen in einem riesiges Mosaik, für das uns die meisten Steine sogar noch komplett fehlen, um abschätzen zu können, welches Bild das Mosaik eigentlich darstellt. 

Selbst beim Menschen, bei dem es schon viel mehr Arbeiten zur Belastung verschiedener Strukturen unter verschiedenen Settings gibt, lässt sich oft noch gar kein klares Bild erkennen. Denn neben all den anderen Variablen, die man in einem Versuchsaufbau verändern kann, spielt auch noch das Individuum eine Rolle: Man weiß z.B. dass die naturgegebene Anatomie eines einzelnen Menschen die Belastungssituation beeinflusst. Auch Pferde sind ganz unterschiedlich gebaut und haben eine andere „Manier“ sich zu bewegen. Wir versuchen diese in der reiterlichen Ausbildung ja sogar zu beeinflussen. 

Selbst wenn wir jetzt annehmen, dass die ermittelten Daten von Logan et al. 2021 sich so immer und immer wieder reproduzieren ließen und allgemeingültig seien, könnten wir daraus aber nicht viel schließen. Denn die Arbeit ergab einfach nur: Die Gangart hatte einen höheren Einfluss auf die wirkende Kraft als die Linie und im Trab war die Kraft am geringsten. 

Wir dürfen uns auf keinen Fall zu folgendem Fehlschluss verleiten zu lassen: „Im Schritt und Galopp nehmen Pferde mehr Schaden als im Trab.“ Das kann (und will) uns eine solche Studie nicht sagen. 

Denn: Belastung ist nicht schädlich. Der Bewegungsapparat ist dafür gemacht, auch sehr großen Kräften standzuhalten, ohne davon Schaden zu nehmen. Wir sprechen immer gerne noch von „Verschleiß“, wenn es um den Bewegungsapparat geht. Dabei wissen wir heutzutage, dass „Verschleiß“ nur sehr wenig mit den Kräften zu tun hat, dem ein Körper standhalten muss. Es ist nicht so, dass ein Knorpel 210.000 Stöße aushalten kann und dann wird’s zu viel. (Knorpel braucht sogar Stöße, um sich zu ernähren.)

 „Verschleiß“, das meint in der Regel mit Bildgebung feststellbare Veränderungen wie Arthrose in einem Gelenk. Diese Veränderungen kommen aber nicht davon, dass jemand z.B. viel belastenden Sport gemacht hat. Wie sich Gelenke in der Bildgebung darstellen, hängt von ganz vielen Parametern ab: Genetik, Alter, Lebensstil, Verletzungen, Eingriffe... 

Gleichzeitig lässt sich anhand einer Veränderung in der Bildgebung nicht sagen, ob das betroffene Individuum davon beeinträchtigt wird, also z.B. Schmerzen hat. Schmerz steht nämlich wieder auf einem anderen Blatt Papier und ist noch weniger gut erforscht. Sogar die individuelle Psyche scheint eine Rolle zu spielen, wenn es um Schmerzwahrnehmung im Bewegungsapparat geht. 

Deshalb ist es auch wichtig, dass wir vorsichtig sind, wenn wir Warnungen vor z.B. bestimmten Belastungen aussprechen. Denn eine solche Warnung ist oft ein sogenannter „Nocebo“: Es wird glaubhaft gemacht, dass etwas schädlich ist, obwohl das gar nicht stimmt. Dieser Glauben macht es wahrscheinlicher, dass ein Schaden auftritt. Auch dann, wenn das, wovor gewarnt wurde, völlig unschädlich ist. Beim Placebo-Effekt wissen wir, dass er über den Glauben der pflegenden Person auch auf ein betreutes Tier wirken kann (Placebo-by-proxy). Ob schon erforscht wurde, ob das auch auf den Nocebo-Effekt zutrifft, ist mir nicht bekannt.

Take Home Message für Dich:

„Enge Kreislinien sind für das Pferd schädlich!“ – selbst bei der kühnsten Interpretation von Daten würde die Arbeit von Logan et al. 2021 diese Aussage nicht zulassen, da die Kreislinie einen viel kleineren Effekt hatte als die Gangart. Da müsste man dann schon eher sagen: „Schritt und Galopp sind für Pferde schädlich!“ – was für ein Nonsens, wirst Du Dir jetzt denken. Und genau das ist es auch: Quatsch mit Soße. 

Im Training wirken Belastungen – wir nutzen sie sogar, damit der Körper sich anpasst und fitter wird. Eine höhere Belastung ist nicht per se schädlicher als eine niedrigere – sonst müssten Couchpotatos ja einen gesünderen Bewegungsapparat haben als Sportskanonen. Natürlich gibt es trainingsbedingte Verletzungen. Die können sehr spontan durch Pech auftreten, z.B. wenn ein Pferd in die Reitplatzumrandung tritt und sich dabei ein Griffelbein bricht. Verletzungen können aber auch durch Überlastung im Training auftreten – die meisten Sehnenschäden z.B. entstehen durch Überlastung und nicht spontan. Aber: Verletzungen lassen sich nicht vorhersehen

Denn leider haben wir keine Daten, anhand derer wir sagen können: 10 Minuten traben im Wald können nicht schaden, 10 Minuten traben auf dem Zirkel überlasten das Pferd. Mit ganz viel Mut könnten wir nach Logan et al. 2021 vielleicht sagen: Im Trab scheinen die Vordergliedmaßen auf der Kreislinie etwas weniger belastet zu werden als im Schritt oder Galopp. Aber auch das sagt uns nichts über die mögliche (Un)Schädlichkeit vom Training in verschiedenen Gangarten auf dem Zirkel, da Belastungsintensität eben kein Indikator für Schädlichkeit ist

Deshalb müssen wir uns das allgemeine Verständnis der Trainingslehre zunutze machen, um überlastungsbedingte Verletzungen im Training so gut es geht zu vermeiden.

Was bedeutet das in der Praxis?

  • Nicht von 0 auf 100: Wenn Dein Pferd den Winter über fast nur auf dem Paddock herumstand, weil der Reitplatz nicht nutzbar war, steig nicht mit dem Galopptraining eines Weltspitzenvielseitigkeitsreiters wieder ins Training ein. An diese Belastung konnte sich der Körper Deines Pferdes nämlich nicht adaptieren und mit etwas Pech, kann das zu einer Verletzung führen. 
  • Anpassung braucht Regeneration: Ohne anspruchsvolles Training kein Reiz, der den Körper zur Anpassung veranlasst, das ist klar. Die Anpassung selbst findet aber nach der Belastung statt. Um diesen Prozess nicht zu stören, sollte die Struktur nach der Belastung eine Ruhepause bekommen. Hast Du einen Tag mehr auf gebogenen Linien trainiert als sonst, gönne Deinem Pferd danach ein bis zwei Tage Pause von dieser Art der Belastung und geh z.B. auf gerade Linie ruhig ausreiten oder flott spazieren. 
  • Immer schön aufwärmen: Das Körpergefühl braucht beim Start des Trainings oft ein bisschen und da eine gute Koordination wichtig ist, sollten wir dem Körper seine „Hochfahrzeit“ gönnen. Außerdem verbessern sich mit dem Aufwärmen z.B. die Durchblutung der Muskulatur und die Verformbarkeit des Knorpels.
  • Ermüdungsanzeichen beachten: Dein Pferd stolpert nach 15 Minuten traben plötzlich häufiger? Das kann ein Anzeichen dafür sein, dass Kraft und Koordination nachlassen. Beide sind wichtig, um Verletzungen vorzubeugen. Daher: Pause oder Feierabend! Auch Widersetzlichkeit ist oft ein Zeichen von psychischer oder physischer Ermüdung. 
  • Passendes Equipment: Zu lange Zehen unter starren Eisen erhöhen die Kräfte, die auf den Bewegungsapparat wirken. Unpassende Sättel führen zu Schonhaltungen und Gewebsveränderungen. Schmerzen durch drückendes oder enges Zubehör können Unwohlsein an anderen Stellen im Körper „übertönen“: Achte darauf, dass es Dein Pferd mit allem, was Du ihm anziehst, umbindest oder aufnageln lässt darauf, dass es passt und richtig sitzt. 
  • Ein aktiver Lebensstil: Kein Mensch, der Hochleistungssport betreibt, sitzt 23 Stunden auf der Couch. Unsere Pferde sind zwar meist keine Hochleistungssportler, dennoch gehört ein aktiver Lebensstil dazu, wenn’s um die Prävention von Verletzungen geht: Je mehr Zeit für freie Bewegung Pferde in ihrer Haltungsform haben, desto niedriger das Verletzungsrisiko.
  • Eine bedarfsgerechte Ernährung: Alle Strukturen können dann am besten versorgt werden, wenn der Nährstoffbedarf gedeckt ist. Und ganz wichtig: Übergewicht ist ein großer Risikofaktor für Verletzungen und „Verschleiß“. Daher: Regelmäßig den Body Condition Score bestimmen und gerade bei Reitpferden bedenken: Sowohl Reiter- als auch Übergewicht belasten den Bewegungsapparat zusätzlich. Je leichter Pferd und Reiter, desto schonender das gemeinsame Training. 

In diesem Sinne: Keine Angst vor Bewegung und Training! Beides ist der heutigen Datenlage nach erst einmal ziemlich gesund und es gibt keine per se schädliche Bewegung. Mach nicht den Fehler, Dein Pferd aus Angst vor Überlastung zu sehr in Watte zu packen und in Vermeidungsmuster zu verfallen. Die meisten Pferde heutzutage werden nicht überbeansprucht und wer grobe Trainingsfehler (s.o.) vermeidet, kann einen so großen, widerstandfähigen Körper nur schwer durch Training zugrunde richten. Dein Pferd ist belastbar und kann durch gutes Training noch belastbarer werden.

Du brauchst Hilfe dabei, einen passenden Trainingsplan für Dein Pferd zu finden? Dann meld‘ Dich gern bei mir und ich helfe Dir sehr gerne im Rahmen einer individuellen Trainingsberatung

Liebe Grüße
Celina von rational.vet

PS: Du hast einen Fehler im Artikel gefunden? Dann sag' dem Nonsens im Internet den Kampf an und zeig' mir, wo sich der Fehlerteufel eingeschlichen hat. 


Quellenangabe:

Logan, A. A., Nielsen, B. D., Robison, C. I., Hallock, D. B., Manfredi, J. M., Hiney, K. M., Buskirk, D. D., & Popovich, J. M., Jr (2021). Impact of Gait and Diameter during Circular Exercise on Front Hoof Area, Vertical Force, and Pressure in Mature Horses. Animals, 11(12), 3581. https://doi.org/10.3390/ani11123581

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